Wissenschaft und Wirtschaft

Der selbstlose Vollstrecker: Warum zahlen wir dafür, andere zu bestrafen?

Gábor Bíró 9. November 2025
5 Min. Lesezeit

Du kennst das Gefühl. Jemand drängelt sich schamlos in der Schlange vor, telefoniert laut im Ruheabteil des Zuges oder leistet bei einem Teamprojekt einfach nicht seinen Beitrag. Obwohl dir diese Handlungen vielleicht nicht direkt schaden, kocht dein Blut. Du verspürst den starken Drang, die Person zur Rede zu stellen, selbst wenn du dich damit in eine unangenehme Situation bringst. Diese tief sitzende Empörung, die aus einem Gefühl für Gerechtigkeit entsteht, ist mehr als nur ein flüchtiges Ärgernis. Sie ist einer der stärksten, geheimnisvollsten und umstrittensten Motoren menschlicher Kooperation: die altruistische Bestrafung.

Der selbstlose Vollstrecker: Warum zahlen wir dafür, andere zu bestrafen?

Die Mechanismen, die wir bisher besprochen haben – die verschiedenen Formen der Reziprozität und Netzwerkstrukturen – haben gezeigt, wie Kooperation in der Hoffnung auf zukünftige Gewinne oder innerhalb der Sicherheit einer Gemeinschaft entstehen und fortbestehen kann. Aber was geschieht in größeren, anonymeren Gruppen, in denen der Ruf weniger zählt und die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Begegnungen gering ist? In diesen Situationen gedeiht das Trittbrettfahrerproblem: die Versuchung, die Vorteile eines öffentlichen Guts zu genießen, ohne selbst dazu beizutragen.

Wie bekämpfen Gesellschaften diese unglaublich zersetzende Kraft? Die bahnbrechenden Experimente der Schweizer Ökonomen Ernst Fehr und Simon Gächter lieferten eine verblüffende Antwort: Wir sind bereit, persönliche Opfer zu bringen, um Egoisten zu bestrafen, selbst wenn wir daraus keinen direkten materiellen Vorteil ziehen.

Das Sozialexperiment, das Egoismus entlarvte: Das Gemeinwohlspiel

Das Geniale an Fehr und Gächter lag in ihrer Fähigkeit, das Trittbrettfahrerdilemma in einer Laborumgebung mit einem einfachen Experiment, dem sogenannten Gemeinwohlspiel, nachzubilden. Der Aufbau ist wie folgt:

  1. Eine Gruppe von vier Fremden erhält jeweils 20 Geldeinheiten.
  2. In jeder Runde entscheidet jeder Spieler heimlich, wie viel seiner 20 Einheiten er in einen „gemeinsamen Topf“ einzahlt.
  3. Am Ende der Runde multipliziert der Versuchsleiter den Gesamtbetrag im Topf (z. B. mit 1,6) und teilt die Summe dann zu gleichen Teilen unter allen vier Spielern auf, unabhängig davon, wie viel sie einzeln beigetragen haben.

Die Logik ist klar: Das beste Ergebnis für die Gruppe wird erzielt, wenn jeder alle 20 Einheiten beisteuert, da dies die kollektive Auszahlung maximiert. Für den Einzelnen ist jedoch die verlockendste Strategie, zum Trittbrettfahrer zu werden: nichts beitragen, aber dennoch einen Anteil an den multiplizierten Beiträgen der anderen erhalten. Die erste Phase der Experimente erbrachte ein deprimierendes, aber vorhersehbares Ergebnis: Nach nur wenigen Runden schwand das Vertrauen und die Beiträge sanken auf nahezu null. Die Kooperation brach zusammen.

Die Wende: Die Macht zu bestrafen

Dann kam die zweite, alles verändernde Phase des Experiments. Den Spielern wurde eine neue Option gegeben: Am Ende jeder Runde konnten sie, nachdem sie die Beiträge aller gesehen hatten, ihr eigenes Geld ausgeben, um andere zu bestrafen. Für jede Geldeinheit, die ein Spieler für eine Bestrafung ausgab, wurden dem bestraften Spieler drei Einheiten von seinem Verdienst abgezogen.

Aus klassischer wirtschaftswissenschaftlicher Sicht erscheint diese Entscheidung rein irrational. Warum solltest du dafür bezahlen, einem Fremden zu schaden, den du nie wiedersehen wirst, insbesondere wenn seine Bestrafung dir keinen finanziellen Gewinn bringt?

Das Ergebnis war dramatisch. Die Spieler machten ausgiebig von der Bestrafungsoption Gebrauch. Sie begannen, diejenigen stark zu bestrafen, die weniger als der Gruppendurchschnitt beigetragen hatten, insbesondere die absoluten Trittbrettfahrer. Der Effekt war unmittelbar: Aus Angst vor Bestrafung schnellte das Kooperationsniveau in die Höhe und blieb für den Rest des Experiments hoch. Die Teilnehmer hatten freiwillig ein kostspieliges Sanktionssystem aufrechterhalten und so das Gemeinwohl vor dem totalen Zusammenbruch bewahrt.

Warum ist die Bestrafung „altruistisch“?

Das Phänomen wird altruistische Bestrafung genannt, weil der Akt des Bestrafens aus Sicht der Gruppe selbstlos ist. Der Bestrafende nimmt persönliche Kosten in Kauf (er verliert das für die Bestrafung ausgegebene Geld), um einen Normverletzer zu bestrafen. Aus dieser einzelnen Handlung zieht er keinen direkten, persönlichen Nutzen. Der Nutzen fällt der Gruppe als Ganzes zu: Die abschreckende Wirkung der Bestrafung stabilisiert die kooperative Norm, und in zukünftigen Runden profitieren alle (einschließlich des Bestrafenden) von dem höheren Kooperationsniveau. Der Bestrafende bringt also ein individuelles Opfer für das Gemeinwohl.

Die Evolution der Gerechtigkeit und ihr zweischneidiges Schwert

Aber was treibt dieses Verhalten an? Die Forschung legt nahe, dass der Schlüssel in unseren tief verankerten Emotionen liegt. Wenn wir Ungerechtigkeit oder die Verletzung einer sozialen Norm beobachten, werden die Belohnungszentren unseres Gehirns aktiviert, wenn wir die Möglichkeit erhalten, den Betrüger zu bestrafen. Eine Bestrafung auszuführen fühlt sich gut an; es befriedigt unseren Gerechtigkeitssinn. Es ist wahrscheinlich, dass frühe menschliche Gruppen, in denen es solche „selbstlosen Vollstrecker“ gab, weitaus effektiver darin waren, interne Ordnung und Kooperation aufrechtzuerhalten, was ihnen einen evolutionären Vorteil gegenüber Gruppen aus rein egoistischen Individuen verschaffte.

Dieser Mechanismus ist ein Grundpfeiler moderner Gesellschaften. Wenn wir Steuern zahlen, finanzieren wir kollektiv die Polizei und das Justizsystem – dies ist eine institutionalisierte Form desselben Phänomens. Aber er wirkt auch ständig in unserem täglichen Leben: soziale Missbilligung, Klatsch, öffentliche Anprangerung und sogar bestimmte Aspekte moderner Phänomene wie der „Cancel Culture“ können als Erscheinungsformen altruistischer Bestrafung interpretiert werden.

Es ist jedoch entscheidend zu erkennen, dass dieser Mechanismus ein zweischneidiges Schwert ist. Dieselbe Kraft, die eine gerechte und kooperative Norm aufrechterhält, kann auch dazu verwendet werden, eine willkürliche, ausgrenzende oder unterdrückende Norm durchzusetzen. Gruppenzwang, der Zwang zur Konformität und die Bestrafung von „Dissidenten“ werden alle von demselben Instinkt genährt. Der Mechanismus selbst ist neutral; ob seine Macht konstruktiv oder destruktiv ist, hängt ausschließlich von der moralischen Qualität der Norm ab, der er dient.

Fazit: Der starke Wächter der Kooperation

Die Entdeckung der altruistischen Bestrafung hat gezeigt, dass menschliche Kooperation nicht allein auf kalkuliertem Eigeninteresse oder passiven strukturellen Vorteilen beruht. Wir besitzen einen proaktiven, emotional aufgeladenen Instinkt, der uns antreibt, über die Normen unserer Gemeinschaft zu wachen und diejenigen zu bestrafen, die sie verletzen, selbst wenn dies mit persönlichen Kosten verbunden ist. Diese Neigung, obwohl sie manchmal irrational und kostspielig erscheinen mag, ist in der Tat einer der entscheidendsten Faktoren, die es uns ermöglichen, in großen Gruppen von Fremden zu vertrauen und zu kooperieren. Sie ist der starke, aber manchmal blinde Wächter der Kooperation, ohne den unsere Gesellschaften weitaus zerbrechlicher wären.